Frau
T., der Fernseher, die Katze, der Sommer, der Tinnitus
Nach
einem langen Tag - voller Erfolge und Misserfolge - läutete Frau T. bei
einem schönen Glas Wein oder einem Stück Schokolade oder einer
anderen feinen Knabberei den Feierabend ein. Sie machte ihr TV-Gerät
mittleren Alters (in Techniklebensjahren 2 bis 3 Monate) an.
Schaltete es also ein, um bei einer ansprechenden Dokumentation
abzuschalten.
Ein sirrend hohes Geräusch störte den Abend
intellektuellen Inhalts. Mit ihrem linken Ohr, das sie an den
Fernseher hielt, ortete sie die Geräuschquelle eben da. Bei ihrem
Fernseher. Es war spät, sie war müde und das Gerät offensichtlich
defekt.
Der nächste Tag verlief wie üblich. Lüftungen summten,
Kollegen lachten, Geräte brummten. Abends begrüßte sie das nervig
sirrende Geräusch in der an sich stillen Wohnung. Der Kühlschrank
sirrte – festgestellt durch das hellhörige linke Ohr. Die Lampe
sirrte – festgestellt durch das linke Ohr. Die Katze, die Wand, der
Boden, der Sessel, die Couch. Das Bett, der Polster, die Matratze.
Alles sirrte. Die Nacht, der Morgen, der Tag, der folgende. Die
Woche, der Monat, der Frühling, der Sommer.
Infusionen, Tabletten,
Physiotherapie. Ärzte, keine Ärzte, Naturheiler, Humbug und wieder
Ärzte. Der Herbst, der Winter. Angst, Wut, Verzweiflung und Frau T.
gestand sich ein: chronischer
Tinnitus, TV umsonst in die
Tonne gekloppt.
Ursachen
für chronischen Tinnitus gibt es viele. Dem chronischen geht –
logisch – ein akuter voraus. Und diesem viele, verschiedenste -
auch unbekannte Vorgänge. Am häufigsten werden chronische
Lärmschädigungen, Knallverletzungen, Barotraumen, Trommelfellrisse
oder Mittelohrentzündungen berichtet. Auch andere Erkrankungen,
sowie andauernde Anspannung - also negativ bewerteter Stress - können
zu Ohrgeräuschen führen.
Eine
Erklärung
für diese Geräusche sind diese Ursachen aber nicht. Heute –
und bei der derzeitigen Forschung, vielleicht nicht mehr morgen –
geht man von einem Kompensationsversuch des Gehirns aus.
Nehmen wir
an, wir stehen neben einer Hightec-Musikanlage und freuen uns auf ein
sensationelles Konzert. Der Veranstalter will seine Gäste begrüßen.
Mit einem schrill, quiekenden Geräusch stammelt er ein paar Worte
ins Mikro, die wir gar nicht mehr wahrnehmen, denn dieses grauenhafte
Geräusch fuhr durch Mark und Bein. Nicht nur das. Es fuhr übers
Trommelfell, brachte das gesamte Innenohr in Schwingung, schlich in
die Gehörschnecke und knickte eben jene Härchen um, die für diesen
schrillen Ton und dessen Reizweiterleitung zuständig sind, jetzt
passender: waren. Waren deshalb, denn einmal geknickt, geht da geht
erst mal gar nichts mehr und im Gehirn wird diese Frequenz nicht mehr
ankommen. Dies wiederum scheint für den auditiven Kortex unmöglich
oder unlogisch und daher summt er quasi für uns, auch wenn der
ursprüngliche Schaden wieder gehoben werden würde. Diese These erklärt
warum Tinnitus in allen „Farben“ also Frequenzen und „Formen“
also Dauer und Ausmaß vorkommen kann. Auch ganz geringe Abfälle
unseres Hörvermögens - kaum messbar – können zu Tinnitus führen.
Behandlungsmöglichkeiten
Die
Unterscheidung in akuten und chronischen Tinnitus ist für den Betroffenen
egal. Das Geräusch ist da und es nervt, bei chronischem länger als
6 Monate. Man greift je nach Typus aber auf unterschiedliche
Interventionen zurück. Versucht man beim akuten noch mehr oder
weniger erfolgreich medikamentös zu behandeln oder hofft auf die gar
nicht so seltene Spontanheilung, so greift man beim chronischen Typ
auf Methoden zurück die nicht der „Heilung“ dienen, sondern
Akzeptanz und Integration in den Alltag ermöglichen. Kurz: das
Geräusch wird ausgeblendet.
Den
meisten Betroffenen wird aufgefallen sein, manchmal scheint das
Geräusch leiser oder gar nicht mehr vorhanden zu sein. Oder bei
Stress, Aufregung, Erschöpfung wird es als stärker wahrgenommen.
Fluktuierende
Tinnitus-Formen werden gehäuft von (psychogenen) Verspannungen der
Halswirbelsäule begleitet, hier kann mittles Biofeedback-Behandlung
regulierend eingegriffen werden. Die Anspannung bestimmter
Muskelgruppen wird moduliert, Fehlhaltungen korrigiert,
Entspannungsmöglichkeiten erlernt. Zusätzlich erfolgen
Interventionen auf kognitiver
Ebene,
denn wahrgenommene Anspannung, Schwindel und die Belastung durch das
Ohrensausen scheinen eine
Ursache zu haben:
die Wahrnehmung und Bewertung des Geräusches oder
Stressors als anwesend und belastend.
Einstellungen, dysfunktionale Gedanken werden auf psychologischer
Ebene ergründet und Bewältigungsstrategien bearbeitet. Kurz die
Wahrnehmung wird vom Tinnitus weggeleitet, verstärkende
Verhaltensweisen in erfolgreiche Coping-Strategien verwandelt.
Nachtrag
Frau
T. lebt mit ihrem Sirren heute ganz hervorragend. Nur wenn sie sich
ganz stark darauf konzentriert kann sie ihren Tinnitus bestenfalls
noch erahnen. Wenn sie ihn doch einmal ohne Konzentration wahrnimmt,
so bemerkt sie auch Verspannungen im Nackenbereich und weiß, es ist
Zeit für ein Päuschen und ein paar Übungen.
Noch ein paar Fragen und Antworten:
Warum
hörte Frau T. zu Beginn das Geräusch abends, aber nicht in der
Arbeit?
→ Aufmerksamkeitsverschiebung
zum Geräusch hin. Wenn man nicht an einen rosaroten Elefanten
denken soll, kann man nichts anderes mehr tun.
Kann
man Tinnitus heilen?
→ Spontanes
Abklingen in der akuten Phase ist gar nicht so selten, derzeit wird
zwar intensiv geforscht, aber da es sich wahrscheinlich um einen
Kompensationsversuch des Gehirns handelt, und eben dieses
bemerkenswert ausdauernd und effizient arbeitet, geht man nicht davon
aus, dass Tinnitus verschwindet. Aber aufgrund unseres Super-Gehirns
ist es möglich so zu tun als ob.
Kann
Tinnitus nützlich sein?
→ So
lange er als belastend wahrgenommen wird eher nicht. Wenn kompensiert
dann ja. Siehe Frau T.