Dienstag, 31. März 2015

Tinnitus und Biofeedback oder Passung die 1.


Frau T., der Fernseher, die Katze, der Sommer, der Tinnitus
Nach einem langen Tag - voller Erfolge und Misserfolge - läutete Frau T. bei einem schönen Glas Wein oder einem Stück Schokolade oder einer anderen feinen Knabberei den Feierabend ein. Sie machte ihr TV-Gerät mittleren Alters (in Techniklebensjahren 2 bis 3 Monate) an. Schaltete es also ein, um bei einer ansprechenden Dokumentation abzuschalten.
Ein sirrend hohes Geräusch störte den Abend intellektuellen Inhalts. Mit ihrem linken Ohr, das sie an den Fernseher hielt, ortete sie die Geräuschquelle eben da. Bei ihrem Fernseher. Es war spät, sie war müde und das Gerät offensichtlich defekt.
Der nächste Tag verlief wie üblich. Lüftungen summten, Kollegen lachten, Geräte brummten. Abends begrüßte sie das nervig sirrende Geräusch in der an sich stillen Wohnung. Der Kühlschrank sirrte – festgestellt durch das hellhörige linke Ohr. Die Lampe sirrte – festgestellt durch das linke Ohr. Die Katze, die Wand, der Boden, der Sessel, die Couch. Das Bett, der Polster, die Matratze. Alles sirrte. Die Nacht, der Morgen, der Tag, der folgende. Die Woche, der Monat, der Frühling, der Sommer.
Infusionen, Tabletten, Physiotherapie. Ärzte, keine Ärzte, Naturheiler, Humbug und wieder Ärzte. Der Herbst, der Winter. Angst, Wut, Verzweiflung und Frau T. gestand sich ein: chronischer Tinnitus, TV umsonst in die Tonne gekloppt.
Ursachen für chronischen Tinnitus gibt es viele. Dem chronischen geht – logisch – ein akuter voraus. Und diesem viele, verschiedenste - auch unbekannte Vorgänge. Am häufigsten werden chronische Lärmschädigungen, Knallverletzungen, Barotraumen, Trommelfellrisse oder Mittelohrentzündungen berichtet. Auch andere Erkrankungen, sowie andauernde Anspannung - also negativ bewerteter Stress - können zu Ohrgeräuschen führen.
Eine Erklärung für diese Geräusche sind diese Ursachen aber nicht. Heute – und bei der derzeitigen Forschung, vielleicht nicht mehr morgen – geht man von einem Kompensationsversuch des Gehirns aus.
Nehmen wir an, wir stehen neben einer Hightec-Musikanlage und freuen uns auf ein sensationelles Konzert. Der Veranstalter will seine Gäste begrüßen. Mit einem schrill, quiekenden Geräusch stammelt er ein paar Worte ins Mikro, die wir gar nicht mehr wahrnehmen, denn dieses grauenhafte Geräusch fuhr durch Mark und Bein. Nicht nur das. Es fuhr übers Trommelfell, brachte das gesamte Innenohr in Schwingung, schlich in die Gehörschnecke und knickte eben jene Härchen um, die für diesen schrillen Ton und dessen Reizweiterleitung zuständig sind, jetzt passender: waren. Waren deshalb, denn einmal geknickt, geht da geht erst mal gar nichts mehr und im Gehirn wird diese Frequenz nicht mehr ankommen. Dies wiederum scheint für den auditiven Kortex unmöglich oder unlogisch und daher summt er quasi für uns, auch wenn der ursprüngliche Schaden wieder gehoben werden würde. Diese These erklärt warum Tinnitus in allen „Farben“ also Frequenzen und „Formen“ also Dauer und Ausmaß vorkommen kann. Auch ganz geringe Abfälle unseres Hörvermögens - kaum messbar – können zu Tinnitus führen.
Behandlungsmöglichkeiten
Die Unterscheidung in akuten und chronischen Tinnitus ist  für den Betroffenen egal. Das Geräusch ist da und es nervt, bei chronischem länger als 6 Monate. Man greift je nach Typus aber auf unterschiedliche Interventionen zurück. Versucht man beim akuten noch mehr oder weniger erfolgreich medikamentös zu behandeln oder hofft auf die gar nicht so seltene Spontanheilung, so greift man beim chronischen Typ auf Methoden zurück die nicht der „Heilung“ dienen, sondern Akzeptanz und Integration in den Alltag ermöglichen. Kurz: das Geräusch wird ausgeblendet.
Den meisten Betroffenen wird aufgefallen sein, manchmal scheint das Geräusch leiser oder gar nicht mehr vorhanden zu sein. Oder bei Stress, Aufregung, Erschöpfung wird es als stärker wahrgenommen.
Fluktuierende Tinnitus-Formen werden gehäuft von (psychogenen) Verspannungen der Halswirbelsäule begleitet, hier kann mittles Biofeedback-Behandlung regulierend eingegriffen werden. Die Anspannung bestimmter Muskelgruppen wird moduliert, Fehlhaltungen korrigiert, Entspannungsmöglichkeiten erlernt. Zusätzlich erfolgen Interventionen auf kognitiver Ebene, denn wahrgenommene Anspannung, Schwindel und die Belastung durch das Ohrensausen scheinen eine Ursache zu haben:
die Wahrnehmung und Bewertung des Geräusches oder Stressors als anwesend und belastend.
Einstellungen, dysfunktionale Gedanken werden auf psychologischer Ebene ergründet und Bewältigungsstrategien bearbeitet. Kurz die Wahrnehmung wird vom Tinnitus weggeleitet, verstärkende Verhaltensweisen in erfolgreiche Coping-Strategien verwandelt.

Nachtrag
Frau T. lebt mit ihrem Sirren heute ganz hervorragend. Nur wenn sie sich ganz stark darauf konzentriert kann sie ihren Tinnitus bestenfalls noch erahnen. Wenn sie ihn doch einmal ohne Konzentration wahrnimmt, so bemerkt sie auch Verspannungen im Nackenbereich und weiß, es ist Zeit für ein Päuschen und ein paar Übungen.

Noch ein paar Fragen und Antworten:
 
Warum hörte Frau T. zu Beginn das Geräusch abends, aber nicht in der Arbeit?
Aufmerksamkeitsverschiebung zum Geräusch hin. Wenn man nicht an einen rosaroten Elefanten denken soll, kann man nichts anderes mehr tun.
Kann man Tinnitus heilen?
Spontanes Abklingen in der akuten Phase ist gar nicht so selten, derzeit wird zwar intensiv geforscht, aber da es sich wahrscheinlich um einen Kompensationsversuch des Gehirns handelt, und eben dieses bemerkenswert ausdauernd und effizient arbeitet, geht man nicht davon aus, dass Tinnitus verschwindet. Aber aufgrund unseres Super-Gehirns ist es möglich so zu tun als ob.
Kann Tinnitus nützlich sein?
So lange er als belastend wahrgenommen wird eher nicht. Wenn kompensiert dann ja. Siehe Frau T.

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